Arnulf Rainer – Malerische Farbschleier
von Florian Steininger
Im Rahmen von Arnulf Rainers Retrospektive
im Kunstforum Wien wurden seine aktuellsten Arbeiten gleichsam
als »Gegenbilder« – so auch der Titel der im
Jahre 2000 stattfindenden Schau – in den Kontext des bislang
bekannten Bilderkosmos des Künstlers gestellt: Gegenbilder,
die all den Kriterien und Eigenschaften des Rainerschen Bildbegriffs
vehement widersprechen, ja sogar diametrale Positionen einzunehmen
scheinen. An jene Werke schließen auch seine neuesten Bildergebnisse
stilistisch nahtlos an.
Transparenz versus Dichte
Mit sanftem körperlichen Einsatz wischt der Künstler
die Farbe zart in leicht wogenden Bögen auf den Bildträger.
Sowohl die Offenheit des Pinselstrichs als auch das selbstverständliche
Fließen-Lassen der Farbe bilden einen transparenten, leuchtenden
Schleier, der das Dahinter preisgibt. Oft dominiert eine einzige
Farbe, wie etwa in Roter Vorhang oder Blauer Hänger. Die gezogenen
Fährten definieren ein ausgewogenes kompositorisches Konstrukt
von Verkreuzungen, Konkav- und Konvexschwüngen – die
Stabilität und Kompaktheit der Bildsituation unterstützend.
Die unbehandelten Stellen fungieren als verstärkte Lichtzonen
und intensivieren den hellen eleganten schimmernden Charakter.
Damit wendet sich Rainer vom bisherigen Primat der Dichte und
Fülle
seiner Übermalungen und Zumalungen ab. Schon bereits in seinem
surrealistisch orientierten Frühwerk von 1949/50 forciert
Rainer die vorgegebene Fläche zu verdichten, mit Zeichen aus
dem Unbewussten, der dunklen Tiefe, aus dem Abgründigen zu
füllen und dem satten Schwarz die Vorherrschaft zu verleihen.
Ein stetiger innerer Drang und die manische Einstellung treibt
den Künstler zur Überwindung des horror vacui. In den
ab 1953/54 entstandenen Zumalungen herrscht eine dichte, satte,
beinahe an die faktischen Bildgrenzen auslaufende Malschichte vor,
die das Darunter – ob eigene Arbeit oder fremdes Bild – nicht
mehr preisgibt, geprägt von der Verbesserungswut des Künstlers,
wieder und wieder die aktuellste Malschichte zu vernichten und
auszulöschen, um sie in ihrer Qualität zu steigern. Daraus
resultiert eine Vielzahl von in sich gestärkten, mit purer
Malerei gesättigten Tafelbildern, die Rainers Perfektionismus
in der »konstruktiven Destruktion« widerspiegeln.
Diese opake sedimentierte Dichte, diese intensive Versiegelung
der Oberfläche hat nun Rainer aufgebrochen und Licht einströmen
lassen. Von der schwarzen Nacht und der dunklen Ozeantiefe hat
sich der Maler abgewendet. Licht als Transformation von gemalten
Farbschleiern und pulsierenden Vorhängen prägen seine
neuesten Bildkreationen. Räumlichkeit wird sichtbar, wenngleich
diese auf sich selbst bezogen ist und nicht von einem realen örtlichen
Gefüge abgeleitet wird. Ein optisch illusionistisches Flirren
und Funkeln tritt in Kraft. Obwohl der Bildträger sich meist
aus Karton auf Holz zusammensetzt, wirken die gemalten Zonen, als
ob sie von ihrem Grund aufgesogen werden würden, ähnlich
dem saugfähigen Gewebe der Leinwand. Die Farbe konstituiert
sich nicht mehr als Materie, wie in den älteren Bildern, sondern
wird eins mit ihrem Träger, zum Beispiel vergleichbar mit
den Veils von Morris Louis, die sich als polychrome abstrakte Vorhänge
definieren.
Kolorit versus Schwarz
Die Schönheit der Farbwerte an sich steht mehr als je zuvor
im Zentrum von Rainers malerischer Auseinandersetzung. Die Pracht
des Kolorits scheint Rainer früher allzu verführerisch
und effekthascherisch gewesen zu sein. Das dunkle satte Schwarz
dominiert. Die Auslöschung des Sichtbaren, des Motivs, des
traditionellen Abbildes führt jedoch zugleich wiederum zu
einer Malerei, die ihr Eigenstes sichtbar macht. Buntfarbigkeit
fungiert damals ausschließlich als Akzent des Aggressiven
und Expressiven, ob in den kreischend psychedelischen Farbwerten
der neosurrealen Fratzen-Bilder der späten 1960er Jahre oder
in den Fingermalereien der 1970er und 1980er Jahre. Die Farbe Rot
setzt der Künstler früher oft in Verbindung mit dem Blut,
der Wunde, der Qual und dem Opfertod Christi ein. Nun hat Rainer
zur Farbenpracht gefunden und bekennt sich zu ihr. In diesem Zusammenhang
tritt dazu ein Äquivalent in Gerhard Richters malerischem
Werdegang auf. Seit Mitte der 1970er Jahre malt Richter farbintensive,
opulente, abstrakte Kompositionen, nachdem er sich der Enthaltsamkeit
und dem Purismus der Grauen Bilder hingegeben hat: eine Antwort
auf seine letzten Bilder, die sich mit den modernistischen Aspekten
des abstrakten Tafelbildes auseinandergesetzt haben: Abstraktion,
Auflösung, Selbstanalyse, Schweigen, so wie auch in Ad Reinhardts
Black Paintings oder in den schwarzen Übermalungen von Arnulf
Rainer. Opulente, leicht beschwingt und ästhetische farbintensive
Gemälde sind die Folge, die sich selbst genügen und gefallen,
ohne »avantgardistischer Moral«.
Sanfte Eleganz versus
Radikalität und Aggressivität
Rainer verwendet Besen
und Bürsten, die er sanft über
den Karton oder das Blatt Papier streift. Ihre Haarstruktur, die
graphische Elemente hervorruft, erinnert ein wenig an zeichnerische
Artikulationen vergangener Zeit: Bögen, Kämme und Kurven,
erfüllt voll rasender Aggressivität und Intensität.
Vor allem in Rainers Kaltnadelradierung ab den frühen 1960er
Jahren ist seine körperliche Vehemenz und die aggressive,
verletzende Wirkung des Werkzeugs stets sichtbar. In den neuen
Arbeiten fließen die Linien zu Strömen zusammen, beruhigt
und sanft. Manchmal fügen sich gezeichnete Spuren in den malerischen
Komplex des Künstlers ein, gemäßigte seismographische
Spuren, Erinnerungen an Rainers Vertikal- und Zentralgestaltungen,
Höhepunkte der zeichnerischen Verdichtung in seinem Werk.
Manchmal untergräbt Rainer ein wenig die sanfte Eleganz seiner
Farbschleier, indem er dem Tafelbild Wunden zufügt – Kratzer
als spannungsgeladene graphische Gegensätze zum beruhigten
malerischen Wert. Dennoch dominieren die Harmonie, die weichen
Schwünge, die Illusion der gemalten Farbflächen. Rainers
Verbesserungswut sind diese Werke bis jetzt noch nicht ausgeliefert
worden. Es rückt das Schöne konfliktfreie Gemälde
in das Zentrum der Konzeption, der körperliche, expressionistische
Einsatz hat spürbar zugunsten einer sanften eleganten Bildfindung
abgenommen. Zerstörung, Wut, der Trieb zur andauernden Verbesserung,
zum in sich gestärkten absoluten Bild sind in den Hintergrund
geraten.
Rainer gilt mit seinen Zumalungen aus den 1950er Jahren zu den
radikalsten und entscheidendsten Vertretern der modernen Malerei
nach dem Zweiten Weltkrieg. Monochromie und Abstraktion waren damals
die vorrangigen Mittel, um an die Grenzen des Mediums zu gelangen,
die von Malewitsch und Rodtschenko erstmals in den 1910er und frühen
1920er Jahren ausgelotet wurden. Hiermit steht Rainer in direktem
Zusammenhang mit Yves Klein, Mark Rothko, Piero Manzoni und besonders
mit Ad Reinhardts Black Paintings, die wie bei Rainer die Negation
und Auslöschung in sich tragen.
Jedoch hat Rainer immer an das Medium der Malerei weiter geglaubt,
trotz des scheinbaren Erreichens gewisser End- und Absolutpunkte – in
der Form seiner schwarzen Übermalungen. Wenn auch Komponenten
des Aktionismus und der Performance, wie etwa in den Face Farces,
Rainers Kunstbegriff erweitern, bleibt er stets dem Tafelbild und
der persönlichen malerischen oder graphischen Handschrift
treu – im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen des Wiener
Aktionismus, die der Malerei damals eine radikale Absage erteilt
haben.
Sein Werk ist so facettenreich, gleich einem Kaleidoskop, das
Gegensätze
in sich vereint: Verweigerung und Bejahung, Reduktion und Fülle,
Stille und Aggressivität. Eine lineare Entwicklung ist daher
bei ihm nicht nachvollziehbar.
Trotz der diametral entgegenwirkenden Charakteristika im Werk
von Arnulf Rainer hat er jedoch in seinen aktuellen Bildern eine
neuartige
Haltung zum Tafelbild grundsätzlich eingenommen. Egal, ob
expressiv körpergeladen, wie in seinen Überzeichnungen,
Bogen-Bildern, Face Farces, Body Poses oder Fingermalereien oder
meditativ, wie in den schwarzen Übermalungen und dunklen dichten
malerischen Kreuzen der 1950er und 1960er Jahre – bei all
diesen Werken dominiert die innere Spannung, der Drang, der Druck
nach dem Spröden, dem Schwierigen, dem nicht leicht Zugänglichen,
der Kampf und das Ringen um eine Bildlösung. Heute tritt eine
konfliktfreiere Mentalität zutage. Selbstverständliche ästhetische
Würfe der reinen Malerei entstehen, voller koloristischer
Eleganz, befreit vom Dornigen, von der rasenden Intensität,
dem Tiefenrausch der stummen dunklen Malerei, der Verinnerlichung
der »gotischen Schwere«.
Es ist ein oft anzutreffendes Phänomen, dass das Spätwerk
bei manchen Künstlern eine gelöste, frische und auch
für sich stehende Bedeutung einnimmt, wie etwa bei Joan Miró,
Pablo Picasso, Karel Appel oder Willem de Kooning. Vor allem Willem
de Koonings Arbeiten der 1980er Jahre wurden häufig kritisiert
und als manieristischer Abklatsch seiner frühen fulminanten
expressionistischen Würfe abgetan. Heute betrachtet man sein
Spätwerk aus einem anderen Blickwinkel, sieht es als neues
Kapitel und als gewissen Befreiungsschlag an: virtuose, elegante
Kompositionen, die zwar wesentliche Rudimente eines typischen Willem
de Kooning implizieren, jedoch in eine neue Richtung weisen. Vor
allem Maler wie Brice Marden, David Reed oder Robert Zandvliet
zeigen deutliche Verwandtschaften zu de Koonings Spätwerk
und unterstreichen somit seine eminente Bedeutung und Kraft.
Rainer scheint seit etwa Mitte der 1990er Jahre, begonnen mit
den Geologicas (1996) und den Schleierbildern (ab 1998), ebenso
ein
neues Kapitel eröffnet zu haben, das sich erstmals von seinen
gewohnten, ab den frühen 1950er Jahren gewachsenen und ausgeformten
Mentalitäten deutlich absetzt, wenngleich Reste seiner Handschrift
stets vorhanden sind: eine Freiheit, in der Malerei selbst neue
Perspektiven zu finden.
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