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Joëlle Tuerlinckx

Summertime

blank down GALERIE nächst ST STEPHAN
 08.07. - 30.09.2023


Eröffnung: Samstag 8. Juli 2023, 14 Uhr
Einführung um 14:30 Uhr: Dr. Clémentine Deliss, Associate Curator, KW Institute for Contemporary Art, Berlin



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Mit der Ausstellung Summertime entführt uns Joëlle Tuerlinckx in die flimmernde Wärme vergangener Sommertage. Ihre neuen Skulpturen und Collagen, die zwischen Präzision und Verspieltheit oszillieren, verbinden das Rational-Geometrische und das Traumartig-Sehnsüchtige – die Sehnsucht nach den Horizonten des morgigen Tages. Durch ein offenes Fenster strömen Wind und Sonne in die Galerie, als strebe die freie Natur draußen nach zusätzlichem emotionalen (Binnen-)Raum. Wir schreiten über „dislozierte“ Zeichnungen aus Messing-Flachteilen und Aluminium-Tafeln. Die filigranen Bodenarbeiten stellen einen Bezug zu den Serien der Collages d’Atelier an den Wänden her. In einer Serie kombiniert Tuerlinckx einen computergenerierten Umriss mit einer Chute d’Atelier, ein kleines Gemälde in monochromem Scharlachrot liegt mit der Vorderseite nach unten, das Pigment kaum sichtbar, abgesehen von ein paar farbigen Flecken, die bis an die Ränder gesickert sind. In anderen Arbeiten wird der gemalte Überrest durch eine Ansichtspostkarte mit dem Motiv eines Sonnenuntergangs oder einer Meereslandschaft ersetzt. Diesmal wurde die Abbildung umgedreht, um die Bildunterschrift auf der Rückseite zum Vorschein zu bringen. Man liest Phrasen wie „Paix du soir“ [Abendfriede] oder einen Vers aus einem Gedicht des französischen Dichter-Staatsmanns Alphonse de Lamartine, etwa „Le soleil de demain ?“ [Die Sonne von morgen?]. Mittlerweile sprechen diese idyllischen Panoramen mit ihrem Nachgeschmack an Tourismus und Nostalgie eine andere Sprache, in der das zunehmende Unbehagen an der Verschandelung der Umwelt sowie der Zerstörung des Paradieses mitschwingt.

Tuerlinckx hat eine besondere Beziehung zur Fotografie, zu der sie immer wieder aufgrund der traumähnlichen Erinnerungen, die diese auslösen kann, zurückkehrt. Vor ein paar Jahren hat sie einen Raum in der Galerie nächst St. Stephan mit der vergrößerten Aufnahme einer Backsteinmauer tapeziert, die in ihrem Brüsseler Atelier gemacht wurde. Anlässlich der Ausstellung Summertime wiederholt sie dieses Vorgehen, diesmal allerdings mit einem Fundstück, dem Foto eines jahrhundertealten Gebäudes. Das Bild, das sie tagaus tagein in ihrem Atelier betrachtet hat, wird jetzt in die Räume der Galerie überführt. Das gefundene Foto wirkt wie ein Köder, wie eine mnemotechnische Verlockung, die an sich so enigmatisch-rätselhaft ist, dass sie unsere Erfahrung der Realität verwandelt. Im selben Raum findet man einen blauen Küchentisch, auf dem die Künstlerin Metallfolien und aus durchsichtigem Film ausgeschnittene Kreise platziert hat. Diese Figures de Vent [Windfiguren] wirbeln im Licht und tanzen im Zugwind eines nahen Ventilators, als bewegten sie sich vor einer laufenden Kamera.

An der Wand stehen in Wasser getränkte und gefaltete Bilder erratisch-ungleichmäßig hervor, wie Skulpturen. Tropfen von verwaschener Farbe besprenkeln die Wände, zusammen mit feinem Kupferdraht sind sie Teil eines ausufernden Wandgemäldes. Mit seinen blauen und gelben Markierungen lässt es an Freskomaler:innen denken, die die Wand mit übriggebliebenem Pigment anstreichen, um ihre Pinsel zu reinigen. Teilweise angemalte Nylonfäden spannen sich durch den Raum, um auf Papierzungen zu treffen, die im Wind flattern. Bei Lignes Café verwendet Tuerlinckx Papier Tischtücher aus Restaurants, auf die sie Linien in Farben ferner Horizonte zieht. Anderswo schwingt eine Serie von kleinen Werken, Études de Cuisine [Küchen-Studien] mit perkussiver Intensität, sind doch die in Bleistift ausgeführten Arbeiten zwei Stunden lang oder noch länger durch klopfende und reibende Bewegungen aufs Papier gebracht worden.

Tuerlinckx stellt sich somit erneut einer der zentralen Herausforderungen ihres künstlerischen Schaffens: Wie lässt sich ihre Privatwelt – die ihres Ateliers samt der dortigen Freiheit der noch-nicht-voll-eingelösten Komposition – in den hermetischen Rahmen einer Galerie überführen? In der Schau Summertime wird der Musik die Aufgabe gegeben, diese Präsenz translozierend zu vermitteln. Aus der Ferne hört man, wie jemand Akkorde übt – vielleicht ein paar Sequenzen aus „Summertime“, gesungen von Janis Joplin -, aber so leise, so undeutlich, dass man sich täuschen könnte. Dem bloßen Auge unsichtbar, aber doch irgendwo in der Galerie verortet, wirkt diese akustische Skulptur beunruhigend, irritierend, eine Störung der Wellenlängen zwischen der gelebten und der imaginierten Erfahrung.

In ihrer konfigurierten Wirkmacht und ungewohnten Schönheit führen uns diese Kunstwerke visuellen Sauerstoff zu. Summertime ermutigt uns, eine Pause einzulegen und die mehrfach wiederholten Fiktionen unseres gemeinsamen Lebens humorvoll-kontrapunktisch zu betrachten.

Clémentine Deliss

CLÉMENTINE DELISS ist Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Gegenwartskunst und Ethnologie in Wien, London und Paris. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Deliss ist assoziierte Kuratorin am KW Institute for Contemporary Art in Berlin, wo sie die Ausstellung “Skin in the Game” vorbereitet, die am 13. September 2023 mit Arbeiten und einer kollaborativen Choreografie von Joëlle Tuerlinckx eröffnet.