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Isa Melsheimer

Fortlaufender Prozess der Verbesserung

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 30.03. - 13.05.2023


Eröffnung: Donnerstag, 30. März 2023, 19 Uhr
Einführung um 19:30 Uhr: Verena Gamper, Kuratorin, Belvedere



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Isa Melsheimer
Nr.480, 2022, Foto: Oliver Mark

Utopische Architekturmodelle, Tierbauten, Gebäude aus organischem Material: ist die Assoziationskette einmal in Gang gesetzt, motivieren die neuen Keramiken von Isa Melsheimer eine Fülle an möglichen Identifikationen, Maßstäben, Geschichten und Verwendungszwecken. Die trotz schwach ausgeprägter Merkmale als Bauten lesbaren Plastiken changieren in ihrer Erscheinung zwischen Fragment und Modell, zwischen Gemachtem und Gewachsenem, zwischen künstlich und natürlich – befriedet unter Glasuren, die an Ausblühungen, oxidierte Steine, Flechten oder Erdschichten erinnern. Kristalline Formen und lamellenartige Passagen treffen auf eindeutig architektonische Elemente, seitliche Öffnungen erlauben einen Blick auf die Eingeweide der bautechnischen Konstruktion. Manche der monumentalen Keramiken ragen fast hüfthoch in den Raum, andere suchen die horizontale Ausdehnung. In Kleingruppen beisammen stehend, lassen sie an die unterschiedlichen Bebauungsformen urbaner und ruraler Lebensräume denken.

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Isa Melsheimer, Fortlaufender Prozess der Verbesserung II, 2023, Foto: Oliver Mark

Auf den ersten Blick reihen sich die Keramiken nahtlos ein in die seit Jahren anhaltende Auseinandersetzung der Künstlerin mit unserer gebauten Umwelt, mit den Bedingungen ihrer Entstehung und dem Wandel ihrer Bewertung. In ihr manifestieren sich kulturelle Geschmacksprägung, gesellschaftlicher Zeitgeist, technische Machbarkeit, städteplanerische Visionen, ökonomische Argumente und politischer Wille. Vordergründig mit Konstanz und Permanenz konnotiert, unterliegt ein Gebäude nach seiner Fertigstellung andauernder Veränderung – nicht nur hinsichtlich seiner materiellen Qualität und seines Erscheinungsbildes, sondern auch im Hinblick auf seine ästhetische Bewertung. Trotzdem ist das ästhetische Urteil im Entscheidungsprozess für ein Gebäude noch vielfach ausschlaggebend und sticht andere Argumente wie Funktionalität oder Praktikabilität aus. Vor diesem Hintergrund sind Melsheimers neue Keramiken zu sehen, die erstmals keine konkreten Gebäude oder Architektursprachen reflektieren, wie dies noch in den von Bauwerken der Architekten Werner Kallmorgen, Ulrich Müther oder Heinz Islar ausgehenden Plastiken oder in der Werkgruppe Communication with the Rotten Past der Fall war. Stattdessen fußen sie auf der Beschäftigung mit Animal Architecture, den von Tieren gebauten Behausungen. Diese werden zumeist nicht nach ästhetischen Kriterien gebaut, sondern müssen bestimmte Funktionen erfüllen. Darüber hinaus werden sie bei Bedarf auch überarbeitet und adaptiert und spiegeln damit ein virulentes Thema im aktuellen, auf Nachhaltigkeit bedachten Architekturdiskurs, wo unter dem Stichwort repair an die Stelle von Neubauten Adaptierungen, Ergänzungen, Umbauten oder Reparaturen treten. Auch etwaige Spuren der Zeit haben ihre Berechtigung und können als impulsgebende Einlagerungen produktiv gemacht werden. Als fortlaufender Prozess der Verbesserung verstanden, verabschiedet sich Architektur von der Idee einer finalen Setzung und öffnet sich stattdessen hin zu einer potenziell nie abgeschlossenen architektonischen Handlung.

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Isa Melsheimer, Fortlaufender Prozess der Verbesserung III, 2023, Foto Oliver Mark

Ebenso unabsehbar wie die künftigen Anforderungen an ein Gebäude sind jene Handelnden, die einst mit Adaptionen darauf reagieren und so als Co-Autor*innen firmieren. In ihrem hybriden Erscheinungsbild zwischen modellhaften Versuchsanordnungen menschlicher Unterkünfte und Behausungen anderer Lebewesen, zwischen Menschengemachtem, Tierischem und Gewachsenem legen die Keramiken nahe, dass dieser architektonische Prozess in einer nicht mehr anthropogen überformten Welt anzusiedeln ist. Vielmehr scheint der Künstlerin Donna Haraways Zeitalter des Chthuluzäns vorzuschweben, in dem alle möglichen Arten und Kreaturen gemeinschaftlich existieren und handeln. Architektur im Chthuluzän wäre weder zeitlich noch formal abgeschlossen und als Sediment ein genuin plastischer, weil additiver Prozess. Durch die Einbeziehung auch nichtmenschlicher Organismen würde sie bisher unbekannte Ästhetiken, Materialien und Werkkonzepte zu Tage bringen. Isa Melsheimers Keramiken lassen ahnen, wohin die Reise gehen könnte.

Verena Gamper

ISA MELSHEIMER, geboren 1968 in Neuss, Deutschland, lebt und arbeitet in Berlin.
2008 wurde ihr der Kunstpreis der Stadt Nordhorn und 2015 der Marianne-Werefkin-Preis verliehen.
Melsheimer erhielt zahlreiche Stipendien, darunter der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom, des Goethe Instituts Lissabon, der Villa Aurora in Los Angeles und der Chinati Foundation in Marfa.
Seit 2022 unterrichtet sie an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel.
Ausgewählte Einzelausstellungen: Centre International d’Art et du Paysage de Île de Vassivière, Beaumont-du-Lac (2022); MAMAC-Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain, Nizza (2021); KINDL–Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin (2020); Kunstverein Heppenheim (2018); Städtische Galerie Delmenhorst (2018); Fogo Island Art Gallery, Neufundland (2018); Mies van der Rohe Haus, Berlin (2017); Ernst Barlach Haus, Hamburg (2015); Ikob Museum für zeitgenössische Kunst Eupen (2014); Santa Monica Museum of Art, Kalifornien (2012); Kunsthaus Langenthal, Schweiz (2010); Carré d’art – Musée d’art contemporain, Nîmes (2010).
Ausgewählte Sammlungen: Bonnefanten Museum, Maastricht; CNAP Centre national des arts plastiques, Paris; Carré d’art Musée d’art contemporain de Nîmes; Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen; Künstlerhaus Schloss Balmoral, Bad Ems; Mudam Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, Luxemburg; Museum Kunstpalast, Düsseldorf; Museum Ludwig, Köln; Falckenberg Collection, Hamburg; Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Gent.

VERENA GAMPER, geboren 1977 in Meran, Studium der Kunstgeschichte sowie Sozial- und Kulturanthropologie in Wien, Berlin und Rom. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen zu moderner und zeitgenössischer Kunst. 2014 bis 2017 Kuratorin in der Kunsthalle Krems sowie Kuratorin von AIR Niederösterreich. 2018 bis 2023 Kuratorin im Leopold Museum und Leiterin des Forschungszentrums, seit Februar 2023 Kuratorin Sammlung 20. Jahrhundert im Belvedere, Wien.