Ausstellungsliste nach Galerien
 Ausstellungsliste nach Künstlern

Introduction to a Distant World

 

GALERIE HUBERT WINTER
 26.06. - 29.08.2020

Vernissage: am Donnerstag, dem 25. Juni 2020, um 19:00 Uhr

Hortense träumte in der zärtlichen Sonne. Sie umarmte den alten Sinouls, betrat die Rue des Milleguiettes und verschwand allmählich aus unserem Blick. Sie hingegen, Sie bleiben da.
Die letzten Zeilen. In: Jacques Roubaud. Die Entführung der schönen Hortense. Roman. Dt. v. E. Helmlé. München, Hanser, 1991.

 

bild
Alfredo Jaar. Introduction to a Distant World. 1985

Mirella Bentivoglio. Simone Fattal. Joel Fisher. Hamish Fulton. Nancy Haynes. Michael Höpfner. Alfredo Jaar. Birgit Jürgenssen. Richard Nonas. Sarah Pichlkostner. Lawrence Weiner.

In der deskriptiv darstellbaren Mannigfaltigkeit der Leistungen des Menschen läßt sich das Einheitsprinzip am ehesten unter dem Stichwort „Distanz“ erfassen. Eine Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, könnte daher lauten: durch Distanz.
Hans Blumenberg

In einer Zeit der ständigen Unmittelbarkeit ist die Fähigkeit zur Distanzierung tatsächlich eine gewisse Stärke geworden. Seit einigen Wochen ist diese Fähigkeit bzw. die Freiheit zur Distanz sehr plötzlich zu einer enormen Einschränkung gekommen und wird augenblicklich zu einem fundamentalen Verhalten menschlicher Existenz. Für Viele ein negativer Einschnitt in die Alltäglichkeit, ist Distanz hingegen, für einzelne Künstler*innen ein wesentlicher Begriff ihrer Kunst, wie beispielsweise des britischen Künstlers Hamish Fulton (geb. 1946). Tage- und wochenlang Strecken zu Fuß zu gehen, bedeutet eine wortwörtliche Erfahrung von Distanz machen. Die Distanz, die er dabei auf seinem Weg erfährt, nicht nur im Sinne einer Strecke zwischen Anfangs- und Endpunkt, sondern auch als Mensch der Natur wie auch der Gesellschaft gegenüber, ist für den walking artist immanent – no walk, no art. Diese Entfernungen können wir (als Rezipient) schlussendlich nur anhand seines (in unserem Fall) chiffrierten Wandbildes versuchen nachzuvollziehen.

Distanz meint nicht allein Ferne, sondern kann auch in nächster Nähe stattfinden. Emotionale Distanz einzunehmen, zu wahren oder aufzuheben und dies zum jeweils entsprechenden Zeitpunkt ist mitunter eine der schwierigsten Entscheidungen, die man manchmal treffen muss. Exakt an diese Schwelle bringt uns Alfredo Jaar (geb. 1956) in seiner Videoarbeit „Introduction to a Distant World“ von 1985. Aufnahmen von Arbeitern einer Goldmine in Serra Pelada, Brasilien zeigen die unfassbaren Bedingungen einer Rohstoffgewinnung. Jaars Perspektivierung bringt diese distant world unangenehm nahe und kritisiert unsere moderne Konsumgesellschaft mitsamt ihrem „goldenen“ Nimbus.

Das Werk der libanesisch-amerikanischen Künstlerin Simone Fattal (geb. 1942) ist durchwegs von der Distanz zwischen historischer Zeit und erlebter Zeit, also Geschichte und Biographie, geprägt. In Damaskus geboren und im Libanon aufgewachsen, reflektieren Fattals Keramiken, Zeichnungen und Aquarelle auf die libanesische Kultur, Kriegserlebnisse, Vertreibung und konstruieren Fattals Erinnerung und Geschichte im Hier und Jetzt. Erinnerungen lassen auch Nancy Haynes‘ (geb. 1947) Werkserie der “memory drawings” entstehen, in denen sie mnemonisch Ereignisse und Namen inspirierender und bedeutender Künstlerkollegen in einem strengen Raster anordnet. In ihrer Hommage an On Kawara fasst sie die zeitliche Distanz zusätzlich mit einem Lineal anschaulich und begrifflich ein. Haynes verarbeitet Distanz als Metapher, als zeitliche Entfernung oder Messgröße, wie auch Joel Fisher (geb. 1947) in seiner mehrteiligen Serie der handgeschöpften Papiere „From 0 to 9“. Als intime Teilnahme und ein Versinken in einer Wahrnehmung beschreibt John Dewey 1934 die ästhetische Distanz, welche Michael Höpfners (geb. 1972) neu entstandenen Zeichnungen passend charakterisieren. „Distance is a name for a participation so intimate and balanced that no particular impulse acts to make a person withdraw, a completeness of surrender in perception”.1

Sarah Pichlkostners (geb. 1988) fragil wirkender „Moonwalker“ überwindet scheinbar Entfernungen für uns. In einem schwebeartigen Zustand und mit kontrastierender Ästhetik erschafft Pichlkostner eigenwillige Skulpturen respektive Charaktere. Zerbrechliche Linien entstehen durch technische Raffinesse und Distanzen bzw. Differenzen treten als raumkonstruierende Faktoren hervor.

Interdisziplinär und aus seinen gewohnten Kontexten gelöst, wird der Distanzbegriff innerhalb dieser Ausstellung konsequent beansprucht und bleibt dabei gemeinsamer Referenzpunkt der gezeigten Arbeiten. Linguistische Verschiebungen, konkrete Poesie und Anweisungen finden wir in den Arbeiten von Mirella Bentivoglio (1922 – 2017), Richard Nonas (geb. 1936) und Lawrence Weiner (geb. 1942). Nicht distanziert, aber Distanz in Form von Zurückhaltung ist für Birgit Jürgenssen (1949 – 2003) ein entscheidendes Element ihrer Arbeitsweise. Fotografien – mit Gaze überzogen – werden für den Rezipienten verdeckt, verschleiert. Jürgenssen erzeugt damit ganz bewusst eine ungewöhnlich taktile Versuchung, sinnliche Ästhetik und phantastische Bildsequenzen.

1 John Dewey, Art as Experience (1934), New York 1958, S. 258