Dem deutschen Konzeptkünstler STEFAN THIEL (geb. 1965 in
Berlin) widmen wir die kommen-de Ausstellung im ERSTE-Projektraum.
Es überrascht, wenn ein junger zeitgenössischer Künstler
sich der unzeitgemäßen Technik des Scherenschnitts bedient.
Doch Stefan Thiels Arbeiten sind attraktiv. Seine Ausstellung 2001
in der Berliner Galerie griedervonputtkamer war bei der Eröffnung
bereits ausverkauft. Wir zeigen zwei großformatige Vulkanausbrüche
(200 x 200 cm, 150 x 150 cm) sowie ein kleinformatiges Krankenhaus.
Weitere Motive halten wir für Sie bereit.
Raimar Stange: Schwarz auf Weiss Zur ästhetischen Strategie
von Stefan Thiel Manie und Manierismus: STEFAN THIEL ist in der
Kunst so etwas wie ein skrupelloser Wieder- holungstäter und
unermüdlicher Fleißarbeiter. Immerhin hat er sich ganze
sieben Jahre lang der ausgiebigen und schamlosen Erprobung der künstlerischen
Möglichkeiten der Blindenschrift gewidmet. Allein vier Jahre
hat er davon genutzt, um de Sades "100 Tage von Sodom"
in penib-ler Präzision in Blindenschrift zu übersetzen.
Sein neuer Arbeitszyklus nun ist ähnlich arbeitsauf-wändig
und künstlich: Stefan Thiel arbeitet derzeit an mittel- und
großformatigen Scheren- schnitten. Hier wie da fällt
zunächst der konsequente Verzicht auf bunte Farbigkeit ins
Auge, dann die Übersetzungen von einer signifikanten Vorlage
in ein anderes, binäres hoch/tief bzw. schwarz/weiß
(Zeichen)System. Als dritte Gemeinsamkeit beider Strategien
wäre, wie gesagt, die manisch-manieristische Präzisionsarbeit
zu nennen, die vom Künstler pflichtbewußt zu leisten
ist, schließlich das klammheimliche Moment der fast körperlichen
Einschreibungen: Wie beim Tattoo wird sich hier wie da mitteilend
in eine Oberfläche eingeschrieben, und hier wie da treten dabei
taktile Aspekte fühlen, ritzen bzw. schneiden
auf den ästhetischen Masterplan.
Linientreue statt Leibhaftigkeit: Der artistische Prozess ist durchaus
einfacher Natur: ein zumeist selbst "geschossenes" Dia
wird auf das Papier projiziert, vom Künstler dann nachgezeichnet.
Anschließend wird in täglicher Kleinstarbeit aus(einander)geschnitten
und endlich das Blatt umgedreht der Scherenschnitt ist fertig.
Wichtig ist Stefan Thiel bei seiner Nutzung dieser Technik vor allem,
möglichst viele unterschiedliche Motive auf ihre erhoffte "Scherenschnitt-tauglichkeit"
zu untersuchen. Die Frage lautet also: gewinnt das meist alltägliche
und banale Motiv immer wieder Parkplätze und diverse
Gebäude vor allem, manchmal, gewissermaßen als "sidestep
aber auch Exotisches und neuerdings sogar expressive Vulkanausbrüche
eine ästhetische Wirkung, die nicht auf die dramatische
Wucht quasi leibhaftiger, silhouettenhafter Flächen baut, sondern
auf die filigrane Qualität sensibler Linienführung? Wenn
dies gelingt, dann wird das Schneiden hier zu einem Zeichnen, das
nicht auf eine individuelle, vielleicht gar ach so ausdrucksvolle
Handschrift vertraut, stattdessen aber den beinahe grafischen Charakter
einer scheinbar fotografisch-objektiven Idealisierung betont, einer
Idealisierung, die letztlich in der cool-cleanen Reduzierung des
Schwarz-Weiß-Kontrastes begründet scheint.
Nostalgie als Konzept: selbstverständlich ist das ursprünglich
kunsthandwerklich und weiblich konnotierte Medium Scherenschnitt
eine künstlerische Technik, die erstmal nicht von heute ist.
Sie erinnert uns vielmehr an geheimnisvolle Schattenspiele aus längst
vergangenen Tagen, an alte Kinderfilme und natürlich an Andachtsbilder
und Romanzen aus dem 18. Jahrhundert. (Inter-essant zu sehen, wie
die Amerikanerin Kara Walker in ihren Scherenschnitten diese Sentimen-talitäten
mit ihren aggressiven Anklagen von Rassendiskriminierung konfrontiert.)
Aber auch an ebenfalls traditionsreiche Vorgänger wie die japanischen
Holzschnitte und Jugend-stildrucke erinnern uns die Cut-Outs von
Stefan Thiel zuweilen. Gleichzeitig aber erscheinen die Arbeiten
dank ihrer realistischen und modernen Ikonographie überaus
aktuell. Nun: diese Dualität von Anachronismus und Zeitgemäßheit
überspielt das ästhetische Geschehen in einen selt-samen
Zwischenbereich von Traum und Wirklichkeit sowie von Fiktion und
Dokumentation und fragt so nahezu beiläufig, aber umso
nachhaltiger nach den vermeintlich längst sorgfältig abgesteckten
grenzen zwischen diesen im "richtigen" Leben fein säuberlich
getrennten Bereichen.
Modul und Mitteilung: Gehängt werden die meist quadratischen
Cut-Outs dann oftmals in Petersburger Hängung. So entstehen
(zuweilen blockartige) Konstellationen, in denen der Künstler
verschiedene seiner Arbeiten zu einem modulartigen, vielschichtigen
Geflecht zusam-menstellt. Diese installative, collagenartige Präsentation
verhindert nicht nur eine eindeutige und isolierte Lesbarkeit einzelner
Scherenschnitte, sondern betont vor allem die Bedeutungen von Zusammenstellung,
Grammatik und Kontext, von Stand- und Blickpunkt für jedwede
Sinnpro-duktion nicht nur in der Kunst. Letztlich nämlich ist
es erst der Betrachter, der die vereinzelten Elemente dieser Bild-Sätze
in seinem eigenen Kopf dank aktiver Rezeption mit für ihn einleuch-tenden
Bedeutungen auflädt. Dialog mit dem Betrachter statt Monolog
des Künstlers so lautet bei Stefan Thiel die Devise.
Und ließen sich nicht schon seine Blindenschrift-Arbeiten
vom Gegenüber im selbsttätigen Ertasten dechiffrieren?
Talk show: Das Resultat dieses Anbietens von Lesbarkeit in den
Arbeiten von Stefan Thiel ist vor allem die Behauptung von Welt
als kommunikativem Ereignis. Die Welt ist nicht, sie (er)scheint
nicht auch nicht, sondern sie ergibt sich im performativen Akt einer
dialogischen Wahrnehmung, einer produktiven ästhetischen Wahrnehmung,
die vom Künstler initiiert ist, viel mehr jedoch nicht. Nicht
eine bescheidene Zurückhaltung aber führt der Künstler
hier vor, sondern ein Modell von erkenntniskritischer (konstruktivistischer)
Weltsicht.
Dieser Text ist Teil des Katalogs STEFAN THIEL: "Cut-Outs",
das Anfang 2003 erscheint. Hrsg. Galerie griedervonputtkamer, Berlin,
Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien.
Grafisches Design: Palla Grafik Design SGV, Zollikerberg
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