"farbe fassen" hat Willi Siber diese Ausstellung betitelt.
"
farbe fassen" heißt auch sein neuer Katalog.
"
farbe fassen" - Das meint soviel wie die Handhabung, das Ergreifen
und Zupacken, das Aneignen und Ausschöpfen einer Fülle
von Farbmaterie.
"
farbe fassen" verweist aber auch auf einen kunsthistorischen
Fachbegriff: auf die sog. "Fas-sung", das Einkleiden
der hölzernen Skulptur in einen Farbmantel.
" farbe fassen!"
Im Zusammenhang mit Willi Sibers Kunst erscheint dieser Ausdruck
wie eine programmatische Erläuterung, wie ein Imperativ mit
Ausrufezeichen. Willi Siber ist Maler und Zeichner, Bildhauer und Objektkünstler.
Die Farbe - Pigment und Bindemittel in jeglicher Form – ist
für ihn unumgänglicher Gegen-stand, ist Voraussetzung,
Mittel und Inhalt seines Tuns.
Die Farbe ist Rezept und Zutat für einen sinnenhaften Ausdruck.
Immer stellt sie sich in den Dienst der künstlerischen Erforschung
von Wahrnehmungsphä-nomenen. Willi Siber studiert in den 70er Jahren an der Staatlichen Akademie
der Bildenden Künste in Stuttgart Steinbildhauerei.
In den 80er Jahren beginnt er sich auf den Umgang mit Holz zu konzentrieren.
Er greift damit auf einen Werkstoff zurück, der in seiner
lebendigen Materialität besonders ausdrucksfähig ist,
der in der abendländischen Kunstgeschichte in einer weit ins
Mittelalter zurückreichenden Tradition steht und der in der
Kunst der letzten 20, 30 Jahre eine wert-schätzende Renaissance
erfährt. Willi Siber studiert Bildhauerei, doch schon während der Akademiezeit
zieht es ihn zur Malerei hin.
Heute stehen Malerei und Bildhauerei in seinem Werk gleichberechtigt
nebeneinander.
Mehr noch: Malerei und Bildhauerei greifen ineinander über,
beeinflussen sich gegenseitig und finden in plastischen Wandobjekten
und objekthaften Bildtafeln zu einer eigenwilligen Synthese.
So groß die Bandbreite der künstlerischen Ausdrucksformen
ist, so groß ist auch die Variati-onskraft innerhalb der
Zeichnungen, Bilder, Skulpturen und Objekte. Diese Vielgestaltigkeit resultiert aus der Erörterung fundamentaler
bildnerischer Themen, die Willi Siber auf unterschiedlichsten Ebenen
in seiner Kunst verfolgt:
die Fragen nach dem Werkstoff und seiner Bearbeitung, nach dem
verwendeten Farben- und Formenkanon, nach dem Raum und seiner Erscheinung.
In der seriellen Erarbeitung sucht Willi Siber nach immer neuen
Möglichkeiten, die Grundlagen sinnlicher Wahrnehmung auszuloten,
das optisch-illusionistische Wechselspiel von Fläche und Raum,
Licht und Schatten, Materialisierung und Entkörperlichung
auszuschöpfen und weiterzuentwickeln.
In welchem künstlerischen Medium er sich auch ausdrückt,
immer spielt er mit verschieden-sten bildnerischen Ordnungsprinzipien,
immer inszeniert er scheinbar optische Gewissheiten, um sie sogleich
wieder in Zweifel zu ziehen.
Die Bilder: Sie leben aus Farbe und Materie – aus einer Mischung
von Pigmenten und Pulvern, Emulsionen, Öl- und Druckfarben,
Lacken und Latex.
Sandpapiere und Teerpappen, Röntgenfolien und Stoffe, PVC
und MDF, Eisenbleche und natürlich die unterschiedlichsten
Hölzer werden als Bildträger aufgeboten, bemalt und über-pudert,
verdichtet und abgeschmirgelt, lackiert, lasiert und überschichtet.
Die experimentelle Kombinatorik dient dem Künstler zur permanenten
Auseinandersetzung mit der sinnlichen Material- und Farbwirkung
ebenso wie der Erforschung sensibler Raumil-lusionen.
Im Aufbau sind die Bilder klar in Flächen gegliedert. Sie
halten sich untereinander in einem spannungsvollen Gleichgewicht
und konstruieren Bildräume, deren Eindeutigkeiten immer wieder
durch kontrastreiche Farbakzente, durch optische Brüche, Überlagerungen
und Ver-schiebungen, durch ein breites Spektrum widersprüchlicher
Oberflächenqualitäten, durch glänzende oder matte,
rauhe oder glatte, transparente oder opake Schichten irritiert
werden.
Die Brechung einer strengen Tektonik durch unmerkliche Abweichungen
charakterisiert so-wohl Willi Sibers Bildsprache als auch sein
plastisches Werk.
Vor Jahren hat der Künstler begonnen, die Formen aufzubrechen,
von der geschlossenen Skulptur zum additiv erarbeiteten Objekt überzugehen
und damit das wichtigste bildhauerische Thema in der Kunst der
Moderne neuerlich zur Diskussion zu stellen: die raumgreifende Öffnung
des plastischen Volumens.
Willi Siber bedient sich völlig unterschiedlicher Mittel des
Raumgriffs.Er nutzt Durchbrüche und Aufsätze, Hohlräume
und Vergitterungen. Immer aber geht er von einfachen, regelmäßigen
und in sich ruhenden Grundkörpern aus, die er in einen bewegten
Dialog mit organoiden Kleinformen treten lässt.
Da sind zunächst die massiven Wandtafeln und Objekte, deren
Oberflächen wie ein borstiges Fell mit kurzen, splissig gebrochenen
oder glatt gesägten Holzzapfen überzogen sind.
Einzeln und aus der Nähe betrachtet wirken die scharfen Spleißen
der zerklüfteten Bruch-hölzer verletzend: Abweisend und
wehrhaft ragen sie aus der Fläche. Doch in ihrem flächi-gen
Zusammenspiel, ihrem zellartigen Verbund verleihen sie den Oberflächen
ein dynami-sches und verführerisch samtiges Erscheinungsbild.
Wie Raumfühler oder kurze Tentakeln ertasten die einzelnen
Holznoppen den skulpturalen Umraum. Organische Lebendigkeit wird
suggeriert.
Ihren Gegenpart finden die mit Bruchhölzern besetzten Objekte
in Wandtafeln, deren eben-mäßige Oberflächen durch
eingestanzte Löcher in die Tiefe des Materials vordringen.
In den kleinen Schächten und Hohlräumen konzentriert
sich das zerstörerische Potential des künstlerischen
Eingriffs, das explosionsartige Zerbersten der Holzfasern im Moment
des Durchbruchs.
Doch die stille und kühle Homogenität der Bildkörper
bündelt die Energie in jenen Einbrüchen, die wie Poren
einer Haut Licht und Schatten, Ruhe und Bewegung zu atmen scheinen.
Ihren Höhepunkt erreicht Willi Sibers Auseinandersetzung mit
der materiellen Reduktion in den skelettierten, feingliedrigen
Gitterobjekten. Es sind scharf konturierte, zerbrechlich instabil
wirkende Gebilde - langgestreckte Balken und regelmäßige
Kuben, konvex gewölbte Kissen und amorphe Wolken -, die der
Künstler aus diaphan umflochtenen Hohlräumen entwickelt.
Wie Netzgewebe umspannen die unzähligen, rauh gesägten
und miteinander verleimten Holzpartikel die Formumrisse.
Sie verkörpern nur noch die Idee einer plastischer Substanz.
Ihre lichtdurchdrungenen Leichtigkeit lässt die Grenzen zum
Raum verschwimmen. In einer osmotischen Wechselwirkung diffundiert
der Raum durch das Gitterwerk. Er wird zum ei-gentlichen Volumen
der Skulptur.
Es ist das Spiel mit dem Kontrast und dem Verschmelzen von Fläche
und Raum, das den Künstler reizt.
Willi Sibers künstlerisches Ziel besteht nicht in der materialgerechten
Offenlegung des Ar-beitsvorgangs, sondern in der Nutzung des Werkstoffes
Holz mit seinen Möglichkeiten der Verfremdung.
Ihn interessiert, wie sich Stammholz, Blockware, Sperrholz oder
Tischerplatten sägen, bre-chen, spalten, splittern, schleifen,
durchstoßen und verleimen lassen. Und ihn interessiert die
reine Form- und Oberflächenwirkung, die allein durch das Überfangen
der natürlichen Mate-rialstrukturen mit einer Patina aus pigmentierten
Emulsionen, Teer, Schellack, Kalk, Kreide oder Kohlenstaub zu voller
Geltung kommen kann.
Alles in Willi Sibers künstlerischem Schaffen erwächst
einer inneren Ambivalenz zwischen planvoller Überlegung und
unmittelbarer Spontaneität.eine Zeichnungen und Bilder, Skulpturen
und Objekte vereinen größte bildnerische Gegensätze:
raumgreifender Massivität und schwereloser Entkörperlichung,
Reduktion und Fülle, Oberflächenkonzentration und Raum-tiefe,
Transparenz und Volumen, Monumentalität und Kleinteiligkeit,
naturhafte Materialität und künstliche Verfremdung.
In ihrem Verzicht auf Eindeutigkeit laviert ihr Erscheinungsbild
zwischen Nähe und Distanz, Einfachheit und Komplexität,
Dichte und Auflösung, Statik und Dynamik, Assoziation und
Illusion. Im Sinne der Postmoderne ist Willi Sibers Kunst als ein offenes
System angelegt, als ein offenes System aus Interpretations- und
Handlungsangeboten, das uns als zunächst passive Betrachter
zu Mitschöpfern, Mitspielern und Teilnehmern befähigen
möchte.
So sind wir aufgerufen, je nach Standort, Bewegungsrichtung und
Entfernung vom betrach-teten Objekt die unterschiedlichen Form-,
Licht- und Raumdurchdringungen und die Wandlung des Bildeindrucks
von Fläche und Volumen zu erfahren.
Gerade Willi Sibers Gitter- und Noppenobjekte fordern unsere
sinnliche Aktivität heraus. Durch diese sinnliche Aktivität, durch
ihre räumliche Beziehung zu uns als Betrachter, die wir einen
Bewegungsprozess verwirklichen, erlangen sie ihre Lebendigkeit. Es sind die stillen, lyrischen Qualitäten, die Willi Sibers
Kunst über die Didaktik bloß ange-wandter Wahrnehmungstheorie
hinausheben.
Für Willi Siber gibt es keine letzte, allgemeingültige
Wirklichkeit und Wahrheit.
Seine Bildsprache ist das Produkt eines
suchenden Prozesses des Änderns
und Bewahrens, des Aufspürens unvermuteter Erscheinungsformen
im vermeintlich Bekannten und der Aus-einandersetzung mit der Verwundbarkeit
organischer Systeme.
Seine Bildsprache möchte irritieren, verunsichern und Zweifel
an der Gültigkeit unserer opti-schen Wahrnehmung auslösen.
Und so enthält seine Bildsprache stets Momente des Ahnungsvollen
und Unnahbaren, des Geheimnisvollen und Doppeldeutigen, das keinen
besseren Ausdruck finden könnte als in dem Ausstellungs- und
Buchtitel "farbe fassen". (Dr. Stefanie Dathe) |