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curated by_ Chiara Vecchiarelli

Ups and Downs of a Flipped Planet

GALERIE HUBERT WINTER
 05.09. - 10.10.2020

 

Ich gehe im Dunkeln
Und ich singe absichtlich,

Weil ich nicht mag,
Was das Dunkel singt –

Vielleicht singt es
Gegen mich.
Die letzten Zeilen. In: Eugène Guillevic. Gedichte. Dt. v. M. Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart. Klett-Cotta, 1991.

 

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Jojo Gronostay, DWMC Collection I, Photo by Lukas Gansterer, 2017

Für die antiken Philosophen war die Erde eine kugelförmige. Noch bevor Vorurteile die Welt zur Scheibe plätteten und die kopernikanische Wende sie aus den Angeln hob, stand unser Planet im Zentrum des Universums in einem System sich umhüllender Sphären. Nur wenig wusste man über die andere Hälfte der Kugel, als man ihr einen Namen gab: Der Begriff „Antipodes“, vom Altgriechischen antipous – der gegenteilige Fuß – stammend, bezeichnete die andere Hälfte der Erdkugel, von der man konsequenterweise glaubte, dass die Menschen dort am Kopf stünden, so als reflektiere man sich in einem am Boden liegenden Spiegel.
Mit der Zeit wandelte sich die Bedeutung des Wortes und die Darstellung der Bewohner*innen der anderen Hemisphäre, die ja niemals jemand zu Gesicht bekam, begann diesen invertierte Füße wachsen zu lassen. Sie zeigten entweder in die verkehrte Richtung oder kamen ihnen aus dem Kopf hervor. Als Urbild aller Vorurteile gegenüber dem Anderen, potentiell Unähnlichen und Fremden, wurde Antipodes zum Begriff für alles, das man als minderwertig betrachtete.

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Ausstellungsansicht. Ups and Downs of a Flipped Planet. Curated by Chiara Vecchiarelli. Galerie Hubert Winter, Wien, 2020. Photo: Simon Veres

Ein obskures Schicksal des Begriffes, von Platon vor mehr als 2000 Jahren erstmalig verwendet, dessen Zweck eigentlich die Kritik der Kategorien von oben und unten hätte sein sollen: Gingen wir nämlich um die Erde, schrieb er im Timaios, wären unsere Füße gleichermaßen einmal oben und einmal unten. Es würde daher keinen Sinn machen Begriffe zu verwenden, die Oppositionen implizeren, um einen Ort zu beschreiben, der sowohl oben als auch unten sein kann. Die Beziehung, die uns tatsächlich definiert, ist Platon zufolge nicht die, zu einem privilegierten Punkt auf der Oberfläche, sondern jene zum Kern. Oben und unten verlieren ihre Bedeutung, wenn man erkennt, dass wir alle gleich weit vom Zentrum entfernt sind.
Weder der Ort, an dem wir leben, noch die Sprache, die wir sprechen, unser sozialer Status oder körperliche Merkmale spielen eine Rolle – die Gravitation zieht uns alle an denselben Punkt. Und dennoch funktionieren wir nach diesen simplen Kenngrößen hoch und tief, innen und außen, oben und unten – in völliger Amnesie der Relativität und gegenseitigen Inklusivität dieser Begriffe. Ups and Downs of the Flipping Planet adressiert die kulturelle Konstruktion unserer Ups und Downs und strebt nach einem Kippen der Perspektive.

Genau in diesem Sinne konzipierte Iván Argote seine Skulpturen Antipodos. Menschliche Figuren mit verdrehten Füßen, inspiriert vom Liber Chronicarum, auch bekannt als Nürnberger Chronik von 1493. Die illustriete Enzyklopädie zeigt eine Geschichte der Welt, deren Lücken im Wissen mittels Imagination geschlossen wurden. Bewohner*innen unbekannter Länder wurden mit verschiedensten Deformationen vorgestellt, darunter auch das Vorhandensein beider, männlicher und weiblicher, Geschlechtsmerkmale in jeweils einer Hälfte des Körpers und mit nach hinten gerichteten Füßen. Gehend, sitzend und liegend verändern diese Skulpturen die Wahrnehmung von Raum, nicht ungleich dem Phänomen, dass Wasser in der südlichen Hemisphäre gegen den Uhrzeigersinn abläuft. Sie implizieren einen potentiellen Richtungswechsel, indem sie das Vorurteil, das sie unterlaufen, erst begreiflich machen.

Auf ähnliche Weise vollführte Jojo Gronostay einen solchen Turn, als er sein Label DWMC entwickelte, das an der Schwelle zwischen Kunst und Fashion agiert. Das Projekt eignete sich den ghanaischen Ausdruck Obroni Wawu („Dead White Men’s Clothes“) an, der in den 1970ern die angelieferte Second Hand Kleidung aus der anderen Hemisphäre bezeichnete: Die Qualität der Kleidungsstücke war so hoch, dass man nicht glauben konnte, dass man sie freiwillig oder kostenlos von sich gab. Die Annahme lautete, die ehemaligen Besitzer*innen müssten tot sein. DWMC – zugleich Kunstplattform und Label – macht von Second-Hand Kleidung und totem Inventar/Lagerbestand Gebrauch, operiert in Europa und unterstützt ghanaisches Design, dessen Entwicklung, durch die als Charity gesendete Kleidung, unterdrückt bzw. kolonialisiert wurde.

Hände schließlich, kollaborieren wortwörtlich auf den chimären Malereien von Eliza Douglas. Eine erste Hand malt realistisch, was die Künstlerin nicht kann und eine zweite, ihre eigene, fügt auf gestische Weise eine Gliedmaße oder eine Stück Kleidung hinzu. Der Körper, nur durch seine Extremitäten in Douglas Arbeiten anwesend, windet und dehnt sich als würde er nach genau jenen Orten streben, wo oben und unten dasselbe sind – das Zentrum der Gravitation bleibt ungemalt. So als wäre das Leben eine Chimäre, deren innerster Kern zu niemanden gehörte, nicht einmal ihr selbst. Hände und Füße verbinden sich in einer der Malereien direkt, ohne Korpus, der wird ausgelassen. I Am All Soul lautet der Titel – möglicherweise, weil die Seele der Ort ist, an dem sich Dinge auf den Kopf stellen lassen.