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Malerei jenseits der Bilderproduktion
Bemerkungen zu Thomas Reinholds Gemälden

Die aktuellen Bilderserien von Thomas Reinhold aus den Jahren 2006/07 zeigen ungegenständliche Kompositionen, abstrakte Farbmassen, die über- und nebeneinander über die Leinwand geschoben werden und den Betrachter - mangels Ablenkung durch lesbare Erzählungen - dazu zwingen, sich mit ihrer Konstruktion und ihrem Herstellungsprozess auseinanderzusetzen. Nur die Titel der Serien - "Stäbchen und Zapfen", "Netze", "Ariadne" oder Enchanté" - bieten mögliche Anknüpfungspunkte an Gewusstes oder Erlebtes. Von dort aus kann der Betrachter dann sein Assoziationsgeflecht zu den Farben und Formen der Bilder herstellen und zwischen ihnen navigieren.

Ausgangspunkt dieser Kunst ist, dass der aktuelle Begriff des Gemäldes sich schon seit einiger Zeit von jenem des Bildes emanzipiert hat. Die eigentliche Arbeit des Malers mit organischen und synthetischen Materialien, mit flüssigen und festen Stoffen, mit Proportionen und Farbwerten, mit Formen und Texturen hat im digitalen Zeitalter die bloße "Bilder"-Produktion (welche die Malerei früher auch, aber nicht ausschließlich zu leisten hatte) längst hinter sich gelassen.

Die Konzentration auf die ureigensten Mittel der Malerei ist anhand der Raumstrukturen in Reinholds Gemälden zu beobachten. Und auch diesem Thema lässt sich eine konsequente historische Entwicklungsreihe nachweisen: "Raum" im Bild wurde seit der Renaissance durch eine möglichst realistische Perspektive geschaffen, in der Moderne traten dann (etwa in Picassos Collagen oder in Tatlins Kontrareliefs) die dreidimensionalen Körper aus dem Bild hervor oder es entstanden umgekehrt in der abstrakten Malerei unendliche Raumtiefen. Reinhold unternimmt hier den logischen nächsten Schritt der Schaffung eines Raumkontinuums und positioniert meist organoid geformte Farbflächen hintereinander, indem er sie übereinander mit mehr oder weniger Transparenz vor einen neutralen weißen oder subtil pigmentierten Weißgrund setzt. Mehrere authentische Eigenschaften der Malerei sind damit angesprochen: Zunächst ihre Zweidimensionalität, indem die einzelnen Formen nicht modelliert oder perspektivisch dargestellt werden. Es sind eben Farbflächen, nicht Farbkörper. Zweitens jedoch ihre latente Raumhaftigkeit, da die Farbflächen durch ihre Materialität (die Sicht- und Spürbarkeit der Farbpaste) doch wieder körperhaft werden und so zwischen sich Raum entstehen lassen.

Drittens ist auch der gewählte Ausschnitt eines der Grundthemen der Malerei, die Reinhold eingehend behandelt. Seine Gemälde sind sichtbar konstruiert, einige Kohlelinien geben vor, wo Farbflächen beginnen und wo sie den Bildrand überschneiden. Die Teilung der Kanten in bestimmten Maßverhältnissen beeinflusst natürlich die Komposition im Bildfeld ganz wesentlich. Mit diesem Hinweis auf Proportion, Maß und Zahl könnte man sich nun an den traditionellen Symbolgehalt des Bildes erinnert fühlen. Bewusst lässt Reinhold jedoch die inhaltliche Dimension weg und destilliert nur das formale Grundprinzip aus der Geschichte des Mediums heraus.

Eine inhaltliche Dimension der Malerei von Thomas Reinhold außerhalb ihrer eigenen Physiologie deutet sich in den Titeln an. "Stäbchen und Zapfen" verweisen auf die Anatomie des menschlichen Auges und sprechen damit Wahrnehmungsfragen an, "Netze" suggerieren Zusammenhänge, "Ariadne" stammt aus der griechischen Mythologie und hat mit Orientierung in der Wirrnis zu tun, während das französische Wort "enchanté" gleichermaßen "hocherfreut" wie "verzaubert" bedeutet. Wahrnehmung, Vernetzung, Orientierung und Heiterkeit sind zweifellos Kriterien für die "Bewohner" der Bildräume Reinholds. Versetzt man sich als Betrachter in diese Rolle und konzentriert alle seine Sinneswahrnehmungen auf jene des Auges, dann wird klar, warum diese Arbeiten just Wahrnehmung, Vernetzung, Orientierung und Heiterkeit thematisieren. Sinneseindrücke sind schließlich ganz unmittelbar mit Befindlichkeiten verknüpft, stimulieren direkt die Gefühle. Eine präzise Wahrnehmung lässt Netzwerke entstehen, in denen man sich orientieren und sie heiter durchwandern kann.

Das Unnötige ist abgestreift, die reine Kraft der Malerei kann ungehemmt wirken. Von dieser künstlerischen Klärung ist es nicht weit zur Aufklärung, mit der man die Entwicklung der Malerei Reinholds ebenfalls nicht unpassend beschreiben könnte. Sollte etwa die digitale Revolution dazu beigetragen haben? Und hat sich nun die reine, pure Malerei erstmals in der Geschichte von allen Mystifikationen (die an jüngere Medien abgegeben wurden) zugunsten Klarheit und Nachvollziehbarkeit ihres Aufbaus und ihrer Wirkungen emanzipiert? Antworten darauf kann die Betrachtung von Reinholds Gemälden besser geben als jede Theorie, unmittelbarer als jede Beschreibung.

Matthias Boeckl