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Christine Gloggengiesser

"Selegna Sol"


 GALERIE CHARIM
 27. 02. - 20. 03. 2001

 

Eröffnung: Dienstag, 27. Februar 2001, 19:00 Uhr


Ein Modell der Leidenschaft

von Andreas Spiegl

Der Ausgangspunkt für die Arbeit liegt in der glücklich-unglücklichen Begegnung der Künstlerin mit einem TV-Reporter namens Saul in einem Buchladen in Los Angeles. Den glücklichen Part dieser Begegnung könnte man beschreiben als "Liebe auf den ersten Blick". Unglücklich daran war allein der Zeitpunkt. Um eine Wortwiederholung zu vermeiden, nennen wir dieses Ereignis, das sich da herz- und hirn- und magenerschütternd ereignete, einfach Episode, die sich nur wenige Tage vor dem geplanten Rückflug in die Biografie der Künstlerin einfügte. Episode auch deshalb, weil der Kontakt zum Geliebten allzubald abbrach. Was davon geblieben ist, sind "Erinnerungen und Sehnsüchte – bis heute", so die "Top Story". Was daraus geworden ist, zeigt die Ausstellung von Christine Gloggengiesser: ein Modell der Leidenschaft. Die Tatsache, dass Saul – man möchte sagen "soul" – als TV-Reporter und damit medial tätig war, erleichterte die Versuche, dieser Person und ihren Aktivitäten auch aus der Distanz nachzuspüren. Auf der Web-Site der TV-Station fanden sich seine Reportagen über L.A.´s Architektur, Politik und Stadtkultur. Was eigentlich für ein breit gestreutes Publikum konzipiert war, verwandelte sich aus der Perspektive der Verliebten in persönlichste Informationen darüber, womit sich der Geliebte gerade beschäftigt, und was er wie worüber denkt. "As night falls on the City of Angels…", so "berichtet" Saul etwa über historische Neonzeichen, "a new world emerges, a geography of light. And in this dreamland of luminiscence, no light burns as seductively as Neon". Man möchte sagen: no line burns as seductively as Saul´s. Und plötzlich verschwinden auch die letzten Zeichen seiner Abwesenheit von der Bildfläche. Wenn wir jetzt sagen, dass das, was daraus folgte, mehr ist als das Psychogramm einer unglücklichen Liebe, dann deshalb, weil die Entscheidung, aus der autobiografischen Episode eine künstlerische Arbeit zu entwickeln, auf etwas anderes verweist als auf die bloße Verdrängung von Leid durch Arbeit, wenn man so will: auf eine symptomatische Befindlichkeit. Und diese symptomatische Befindlichkeit könnte man als Hang beschreiben, nicht nur einer zur Fiktion gewordenen Realität bzw. einer immer schon fiktiven Realität geradezu leidenschaftlich hinterherzujagen, sondern diesem drängenden Bewusstsein vom Fiktiven auch ein Stück Realität "einzuräumen". Wenn wir hier von "einräumen" sprechen, dann auch in Bezug auf die "Einrichtung" der Modellarchitektur, die auf ein Konzept der gleichfalls fiktiven Architektin namens "Selegna Sol" für eine Vorstellung von Saul´s Wohnung zurückgeht. D.h. fiktiv ist eigentlich nur der Name unserer Architektin, verbirgt sich dahinter doch die Künstlerin selbst. Als Selegna Sol (rückwärts gelesen: "Los Angeles") markiert Christine Gloggengiesser nicht nur eine Personifizierung und Identifikation mit einer Stadt, sondern auch eine weitere "Revision" des Fiktiven, ja eine Transformation des Fiktiven ins Reale bzw. in ein Modell des Realen. Damit übernimmt die Künstlerin eine Rolle, die nur unterstreicht, dass die Vorstellung von Identität immer schon das Spielen derselbigen impliziert.Die Modellarchitektur dient als Bühne für die Rolle, die Saul in diesem Stück spielt. Die gesammelten Informationen über seine Person werden zum Ausgangspunkt und Material für die Einrichtungsgestaltung, die damit zum fragmentarischen Abbild seines "Charakters" wird. Paradox daran ist nur, dass gerade die Beobachtungen des Reporters nun selbst zum Medium der Beobachtung werden; der professionell Beobachtende wird zum Beobachteten.

"The prison seems to come fully equipped from razor wire to surveillance cameras, from cell-blocks to handcuffs. Yet there is something missing here. A full house of prisoners."

(aus einem Bericht über ein leeres Gefängnis in California City)Die Tatsache, dass eine Überwachungskamera minutiös die "rekonstruierte" Wohnung aufzeichnet und die entsprechenden "Aufnahmen" als Großprojektion im anschließenden Galerieraum übertragen werden, unterstreicht nicht nur die Inversion des Blicks und die imaginäre Kontrolle über den fiktiven Raum und seinen abwesenden Bewohner, sondern auch die Realität eines Voyeurismus, der die eigenen Wunschbilder zum Thema hat. Mit anderen Worten: Man wird zum Beobachter seiner eigenen Beobachtungen dessen, was man gerne beobachten würde. Konnte Robert Musil noch von einem Möglichkeitssinn neben dem Wirklichkeitssinn schreiben, so müssten wir diesen hier um die Möglichkeit eines Möglichkeitssinns ergänzen. Erwähnt werden sollten in diesem Zusammenhang auch die Texte oder Textfragmente von Saul, die in den Fotografien von Christine Gloggengiesser zu Kommentaren von Bildern werden, die dieser nie gesehen bzw. so nie im Sinn hatte. Damit spielen auch die Texte eine Rolle in einem Stück, für das sie zwar ursächlich nicht gedacht waren, aber aufgrund ihrer "Mehrstimmigkeit" übernehmen können.

Diese Potenzierung des Imaginären führt aber wider Erwarten nicht zu einem Realitätsverlust, sondern produziert nur umso eindringlicher das Bewusstsein oder auch die Leidenschaft, eine Vorstellung, ja ein Phantasma ernst zu nehmen und sich diesem auch ein Stück weit auszuliefern. Diese konsequente bzw. programmatische Hingabe an das Imaginäre erzeugt letztlich wieder Spuren im Realen, die mit der Alltäglichkeit der Realität zu verschmelzen beginnen. In den Worten von Deleuze hätten wir hier ein Kristall vor uns, d.h. eine Situation, in der sich der virtuelle und aktuelle Anteil am Realen gleichermaßen abzeichnen würden. Und das Faktum, dass Deleuze sein Kristall

im Kontext einer Analyse des Films entwickelt, kann nur als Hinweis für eine Vorstellung von Realität gelesen werden, die per se bereits filmische Züge angenommen hat. Diese Nähe zwischen Film und Realität charakterisiert übrigens schon die früheren Arbeiten von Christine Gloggengiesser und bestätigt damit, dass selbst diese Episode nur als Teil einer umfassenderen Handlung und Haltung wahrgenommen werden kann, eben symptomatisch. Das "Modell" einer Leidenschaft wäre demnach Ausdruck einer Lebenspraxis, die sich die Realität als Fiktion einbildet, um in der Distanz zwischen beiden einen Handlungsspielraum zu erkennen, der Optionen entwickelt, wo keine sind. Romantisch an diesem Unterfangen erscheint lediglich das Paradoxon, dass die Suche nach Nähe, und hier sogar nach dem Geliebten, nur dazu angelegt ist, eine Distanz zu finden. Damit wäre das Modell der Leidenschaft verführerischer als die Leidenschaft selbst und die Sehnsucht, d.h. die Nicht-Erfüllung des Begehrens, das eigentliche Ziel der leidenschaftlichen Übung. "No light burns as seductively as Neon", weil Neonlicht immer nur für eine Ankündigung, d.h. für ein Versprechen leuchtet, das es selbst nie erfüllen darf.

Andreas Spiegl, 2001