Ein Modell der Leidenschaft
von Andreas Spiegl
Der Ausgangspunkt für die Arbeit liegt in der glücklich-unglücklichen
Begegnung der Künstlerin mit einem TV-Reporter namens Saul
in einem Buchladen in Los Angeles. Den glücklichen Part dieser
Begegnung könnte man beschreiben als "Liebe auf den ersten
Blick". Unglücklich daran war allein der Zeitpunkt. Um
eine Wortwiederholung zu vermeiden, nennen wir dieses Ereignis,
das sich da herz- und hirn- und magenerschütternd ereignete,
einfach Episode, die sich nur wenige Tage vor dem geplanten Rückflug
in die Biografie der Künstlerin einfügte. Episode auch
deshalb, weil der Kontakt zum Geliebten allzubald abbrach. Was davon
geblieben ist, sind "Erinnerungen und Sehnsüchte
bis heute", so die "Top Story". Was daraus geworden
ist, zeigt die Ausstellung von Christine Gloggengiesser: ein Modell
der Leidenschaft. Die Tatsache, dass Saul man möchte
sagen "soul" als TV-Reporter und damit medial tätig
war, erleichterte die Versuche, dieser Person und ihren Aktivitäten
auch aus der Distanz nachzuspüren. Auf der Web-Site der TV-Station
fanden sich seine Reportagen über L.A.´s Architektur,
Politik und Stadtkultur. Was eigentlich für ein breit gestreutes
Publikum konzipiert war, verwandelte sich aus der Perspektive der
Verliebten in persönlichste Informationen darüber, womit
sich der Geliebte gerade beschäftigt, und was er wie worüber
denkt. "As night falls on the City of Angels
", so
"berichtet" Saul etwa über historische Neonzeichen,
"a new world emerges, a geography of light. And in this dreamland
of luminiscence, no light burns as seductively as Neon". Man
möchte sagen: no line burns as seductively as Saul´s.
Und plötzlich verschwinden auch die letzten Zeichen seiner
Abwesenheit von der Bildfläche. Wenn wir jetzt sagen, dass
das, was daraus folgte, mehr ist als das Psychogramm einer unglücklichen
Liebe, dann deshalb, weil die Entscheidung, aus der autobiografischen
Episode eine künstlerische Arbeit zu entwickeln, auf etwas
anderes verweist als auf die bloße Verdrängung von Leid
durch Arbeit, wenn man so will: auf eine symptomatische Befindlichkeit.
Und diese symptomatische Befindlichkeit könnte man als Hang
beschreiben, nicht nur einer zur Fiktion gewordenen Realität
bzw. einer immer schon fiktiven Realität geradezu leidenschaftlich
hinterherzujagen, sondern diesem drängenden Bewusstsein vom
Fiktiven auch ein Stück Realität "einzuräumen".
Wenn wir hier von "einräumen" sprechen, dann auch
in Bezug auf die "Einrichtung" der Modellarchitektur,
die auf ein Konzept der gleichfalls fiktiven Architektin namens
"Selegna Sol" für eine Vorstellung von Saul´s
Wohnung zurückgeht. D.h. fiktiv ist eigentlich nur der Name
unserer Architektin, verbirgt sich dahinter doch die Künstlerin
selbst. Als Selegna Sol (rückwärts gelesen: "Los
Angeles") markiert Christine Gloggengiesser nicht nur eine
Personifizierung und Identifikation mit einer Stadt, sondern auch
eine weitere "Revision" des Fiktiven, ja eine Transformation
des Fiktiven ins Reale bzw. in ein Modell des Realen. Damit übernimmt
die Künstlerin eine Rolle, die nur unterstreicht, dass die
Vorstellung von Identität immer schon das Spielen derselbigen
impliziert.Die Modellarchitektur dient als Bühne für die
Rolle, die Saul in diesem Stück spielt. Die gesammelten Informationen
über seine Person werden zum Ausgangspunkt und Material für
die Einrichtungsgestaltung, die damit zum fragmentarischen Abbild
seines "Charakters" wird. Paradox daran ist nur, dass
gerade die Beobachtungen des Reporters nun selbst zum Medium der
Beobachtung werden; der professionell Beobachtende wird zum Beobachteten.
"The prison seems to come fully equipped from razor wire
to surveillance cameras, from cell-blocks to handcuffs. Yet there
is something missing here. A full house of prisoners."
(aus einem Bericht über ein leeres Gefängnis in California
City)Die Tatsache, dass eine Überwachungskamera minutiös
die "rekonstruierte" Wohnung aufzeichnet und die entsprechenden
"Aufnahmen" als Großprojektion im anschließenden
Galerieraum übertragen werden, unterstreicht nicht nur die
Inversion des Blicks und die imaginäre Kontrolle über
den fiktiven Raum und seinen abwesenden Bewohner, sondern auch die
Realität eines Voyeurismus, der die eigenen Wunschbilder zum
Thema hat. Mit anderen Worten: Man wird zum Beobachter seiner eigenen
Beobachtungen dessen, was man gerne beobachten würde. Konnte
Robert Musil noch von einem Möglichkeitssinn neben dem Wirklichkeitssinn
schreiben, so müssten wir diesen hier um die Möglichkeit
eines Möglichkeitssinns ergänzen. Erwähnt werden
sollten in diesem Zusammenhang auch die Texte oder Textfragmente
von Saul, die in den Fotografien von Christine Gloggengiesser zu
Kommentaren von Bildern werden, die dieser nie gesehen bzw. so nie
im Sinn hatte. Damit spielen auch die Texte eine Rolle in einem
Stück, für das sie zwar ursächlich nicht gedacht
waren, aber aufgrund ihrer "Mehrstimmigkeit" übernehmen
können.
Diese Potenzierung des Imaginären führt aber wider Erwarten
nicht zu einem Realitätsverlust, sondern produziert nur umso
eindringlicher das Bewusstsein oder auch die Leidenschaft, eine
Vorstellung, ja ein Phantasma ernst zu nehmen und sich diesem auch
ein Stück weit auszuliefern. Diese konsequente bzw. programmatische
Hingabe an das Imaginäre erzeugt letztlich wieder Spuren im
Realen, die mit der Alltäglichkeit der Realität zu verschmelzen
beginnen. In den Worten von Deleuze hätten wir hier ein Kristall
vor uns, d.h. eine Situation, in der sich der virtuelle und aktuelle
Anteil am Realen gleichermaßen abzeichnen würden. Und
das Faktum, dass Deleuze sein Kristall
im Kontext einer Analyse des Films entwickelt, kann nur als Hinweis
für eine Vorstellung von Realität gelesen werden, die
per se bereits filmische Züge angenommen hat. Diese Nähe
zwischen Film und Realität charakterisiert übrigens schon
die früheren Arbeiten von Christine Gloggengiesser und bestätigt
damit, dass selbst diese Episode nur als Teil einer umfassenderen
Handlung und Haltung wahrgenommen werden kann, eben symptomatisch.
Das "Modell" einer Leidenschaft wäre demnach Ausdruck
einer Lebenspraxis, die sich die Realität als Fiktion einbildet,
um in der Distanz zwischen beiden einen Handlungsspielraum zu erkennen,
der Optionen entwickelt, wo keine sind. Romantisch an diesem Unterfangen
erscheint lediglich das Paradoxon, dass die Suche nach Nähe,
und hier sogar nach dem Geliebten, nur dazu angelegt ist, eine Distanz
zu finden. Damit wäre das Modell der Leidenschaft verführerischer
als die Leidenschaft selbst und die Sehnsucht, d.h. die Nicht-Erfüllung
des Begehrens, das eigentliche Ziel der leidenschaftlichen Übung.
"No light burns as seductively as Neon", weil Neonlicht
immer nur für eine Ankündigung, d.h. für ein Versprechen
leuchtet, das es selbst nie erfüllen darf.
Andreas Spiegl, 2001
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